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Ein weiteres Tiroler Schriften-Rätsel ist gelöst. Die mysteriösen Zeichen in der Igler Totenkapelle haben ihr Geheimnis preisgeben. Tirols Semiologe Nummer eins, Erhard Maroschek, löste auch dieses Enigma. Mit Bravour, wie ich meine.

Erst im vergangenen Sommer hatte der studierte Historiker das rätselhafte Schriftband am Goldenen Dachl übersetzt. Es ist das Zitat des Johannes Evangeliums Kapitel 8 Vers 12: ‚EGO SUM LUX MUNDI…‘  Die Lösung dieses Rätsels war ein ganz besonderes Kunststück. Denn Künstler, Wissenschaftler und auch Schriftsteller hatten sich jahrhundertelang an den Zeichen abgearbeitet und vergebens versucht, das Schriftband zu ‚übersetzen‘. Erhard gelang die Übersetzung des Geheimcodes im vergangenen Sommer nachdem er sich mehr als ein Jahrzehnt damit auseinandergesetzt hatte. Er war so schön in Fahrt, dass ich ihm einige Monate später ein weiteres Tiroler Rätsel vorlegen wollte. Wie wär’s, wenn er das Mysterium der schwarzen Zeichen an den Kirchenwänden in Igls und St. Sigmund auch noch enträtseln könnte?

DAS RÄTSEL DER TOTENKAPELLE IN IGLS UND DER PFARRKIRCHE ST. SIGMUND IM SELLRAIN

Eine persönliche Entdeckung hatte ich vor zwei Jahren in St. Sigmund gemacht. In der dortigen Kirche bemerkte ich fremdartige Zeichen an der Kirchenwand. Was das bedeutete, konnte mir niemand beantworten. Die folgenden Recherchen ergaben, dass in der Igler Totenkapelle ähnlich geheimnisvolle Zeichen an die Wand geschrieben wurden.

Nachdem erst kürzlich mein Blogbeitrag zu diesen Schriftfunden online gegangen war, wandte ich mich wieder an Erhard Maroschek. Ich bat ihn, doch einmal ein Auge auf die Fotos mit den mysteriösen Inschriften von Igls und in St. Sigmund im Sellrain zu werfen. Ich tat das in der berechtigten Hoffnung, dass er auch diese harte Nuss knacken würde. Meine Überlegung: Wer es schafft, Maximilians Geheimschrift am Goldenen Dachl zu entziffern, wird mit der Schrift in den beiden Kirchen auch noch fertig werden. Dass er es in so kurzer Zeit geschafft hat, zeichnet ihn in meinen Augen als wahrhaftigen ‚Schriftgelehrten‘ aus.

EIN ORCHIDEENSPEZIALIST MIT HANG ZUR RÄTSELLÖSUNG

Knapp sechs Wochen nach meiner Anfrage erhielt ich tatsächlich eine erste Mail mit der knappen Mitteilung, er habe den Code der Schrift zum aller größten Teil geknackt. Postwendend machte ich mich auf, den gelernten Historiker, Orchideenspezialisten, Schriftendecodierer und Gemeindebediensteten in Lermoos zu besuchen. Eine Frage ließ mich während der Busfahrt ins Außerfern nicht los: Wie schafft man es, eine Geheimschrift zu entziffern, von der es weder einen Decodierungshinweis noch eine Vergleichsschrift gibt?

Zur Erinnerung: In der Totenkapelle von Igls und in der Kirche von St. Sigmund im Sellrain sind bei Renovierungsarbeiten kryptische schwarze Zeichen an der Wand freigelegt worden. Die Igler Zeichen kamen 1970 zum Vorschein, jene in St. Sigmund etwas später. Dass sie von derselben Hand stammen, stand selbst für mich als blutigen Laien von vornherein fest. Sie ähneln auf den ersten Blick keiner bekannten Schrift und erinnern irgendwie an kyrillische Buchstaben. Bislang gab es nur einen Versuch zur Entzifferung. Mit eher mäßigem Erfolg. 

ERZENGEL MICHAEL ALS ‚TÜRÖFFNER‘

Meine erste Frage: Wie hatte es Erhard Maroschek in diesem Fall angestellt, zumindest einzelne Buchstaben zu ‚übersetzen‘, um damit einen ‚Zipfel‘ der Lösung in die Hand zu bekommen? „In St. Sigmund ist eine Zeichnung vorhanden, die einen geflügelten Engel, einen Dreipass und zwei gotische Spitzbogenfenster zeigt. Durch die Fenster sind Stiegen zu erkennen, eine führt hinauf, die andere hinunter“, erzählt er. Rechts daneben ist ein groß geschriebenes Zeichen zu sehen, das wie ein M aussieht. Es ist auch eins. „Ich habe den Namen Michael erkannt, die Rede ist vom Erzengel Michael“, schildert Erhard dieses Aha-Erlebnis. Damit hatte er sozusagen den ‚Fuß in der Tür‘ dieser Geheimschrift.

DAS ‚PROFILING‘ DES SCHREIBERS

Wenn der Schreiber im ausgehenden Spätmittelalter die Zeichnung des Erzengels aus seiner Erinnerung wiedergegeben hatte, muss es dafür ein Vorbild geben oder gegeben haben. Gab es ein solches in St. Michael im Gnadenwald? Oder kannte der Schreiber eine andere Michaelskirche mit einer ähnlichen Zeichnung, einem solchen Fenster mit Fresko darüber?

Die Frage, wer der Schreiber dieser mysteriösen Zeichen war, tritt nun ins Zentrum der Nachforschungen. Was hatte ihn bewogen, die Wände mit großen Buchstaben zu beschreiben? Malte er sie im Geheimen, vielleicht sogar bei Nacht und Nebel an die Wand? Genau diese Fragen haben Erhard Maroschek sehr beschäftigt.

„Ich habe mit meiner Decodierung auch gleichzeitig eine Art historisches Profiling betreiben müssen“, erzählt er. Im Zuge seiner Entschlüsselungsarbeit sind ihm verschiedene Dinge aufgefallen. Details, die auf jene Person schließen lassen, die vor mehr als fünfhundert Jahren Fantasiebuchstaben an die Wand geschrieben hatte.

WAR DIE IGLER KAPELLE EINST EIN HOSPITAL ODER GAR EIN GEFÄNGNIS?

Da wäre zuerst einmal Umfang und Größe der Inschrift in Igls. Es darf angenommen werden, dass der Schreiber über längere Zeit daran gearbeitet hat. „Vermutlich hat er sich in diesem Raum über längere Zeit hinweg aufgehalten“, meint Maroschek. „Und da gibt’s zwei Möglichkeiten: entweder war er ein Gefangener, der in der heutigen Totenkapelle eingesperrt war. Oder er lag verletzt in der heutigen Kapelle, die vielleicht so etwas ähnliches wie ein Lazarett gewesen sein konnte.“ Ein Hinweis auf die Länge des Aufenthaltes hat der Schreiber auch hinterlassen: Insgesamt 35 gerade Striche sind an verschiedenen Stellen der Kapelle angebracht.

‘OHN SCHRITLMAACHT IN LOCH’. DER SCHREIBER, EIN ANALPHABET?

Der Schreiber bekennt in seiner ‚Wandzeitung‘ in Igls, dass er nicht schreiben konnte. Er war, wie er selbst schriftlich festhielt, ‚OHN SCHRIFTLMAACHT IN LOCH‘, hatte also nicht die Macht des Schreibens. Und befand sich zudem in einem ‚Loch’. Die Frage ist nur, was er mit Loch gemeint hatte.

Gesichert ist, dass er Buchstabenformen kannte, die er in seiner Botschaft verwendete.  „Diese Kenntnis“, so Maroschek,  „stammt vermutlich von einem ‚Breverl‘, einem gedruckten Schriftstück das die Menschen früher als Talisman mitführten. Sie glaubten, damit Schutz vor Unheil zu haben.“ Es ist anzunehmen, dass er dieses Breverl selbst nicht lesen konnte, aber dessen Gestaltung bewunderte und die benötigten Buchstaben abzumalen versuchte.

WAR DER SCHREIBER VERLETZT ODER GAR EIN GEFANGENER?

Maroschek schließt aus der Häufigkeit von Anrufungen und Bitten und das mehrmalige Verwenden des Wortes ‚OHN‘ (es fehlt ihm etwas) auf eine missliche Lage des Schreibers. Er war vermutlich in einer äußerst schwierigen Situation. Das Wort ‚LOTH’ – es bedeutet schon im Mittelhochdeutschen „Blei“ – kommt im Text auch zwei Mal vor. Der Schreiber dürfte also damit vertraut gewesen sein. Hatte er Fenster mit Blei verglast? Oder war er Dachdecker, der Bleilötungen für Dachtraufen machte?

Ein Geheimnis bleibt indes ungelöst. Was bedeuten die insgesamt vier Zeichnungen, die der Schreiber angefertigt hatte? Beim ersten Betrachten vermutet man vielleicht Kreuze. Aber das muss nicht der Fall sein. Man kann darin genauso gut mittelalterliche Waffen erkennen. Vielleicht befindet sich unter den Leserinnen und Lesern meines Beitrages jemand, der hier weiterhelfen kann. Dann bitte ein Kommentar in der Kommentarspalte unter dem Text. Danke.

EIN VERZWEIFELTER RUFT HÖHERE MÄCHTE AN

Erhard Maroscheks Resumee: „Es steht außer Streit, dass es sich bei der fraglichen Person um einen Mann handelt. Er war entweder verletzt oder gefangen. Mit großer Wahrscheinlichkeit konnte er reiten und war mit Sicherheit Katholik. Der Verfasser berichtet über die Umstände seiner ‚Notkur‘ im Verlies des Gotteshauses und bittet Maria um Beistand. Sein Name könnte Lenart, also Leonhard gewesen sein. Der Mann war verzweifelt.“

 

Für alle Freunde des intelligenten Rätselratens hat Erhard Maroschek geschildert, wie er die Inschriften entzifferte. Und wie er das Profiling des Schreibers angelegt hat. Hier geht’s zum ‘Making of’: Die Geschichte rund um die Erkenntnisse

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