Muller (93 of 105)

Die alten Traditionen sind stark im Tiroler Land. Nach fünf Jahren Pause (eines mehr als sonst üblich) war es Ende Feber auch endlich wieder so weit: Der wohl größte Mullerlauf der Welt sagte dem Winter in Rum den Kampf (beziehungsweise Tanz) an. Über 10.000 Besucher durften hier uraltes Brauchtum (UNESCO-Erbe) in seinen allerschönsten Formen und Farben erleben. Wenn der Winter weichen muss, dann kommt endlich der Frühling. In Tirol frech, farbenfroh und natürlich einen Schuhplattler tanzend.

Mullen, das bedeutet den Winter austreiben und hat in den MARTHA-Dörfern (Mühlau, Arzl, Rum, Thaur und Absam) fast 400 Jahre Tradition. Die ersten Aufzeichnungen der Dorfchroniken reichen hier bis ins Jahr 1642 zurück. Gemullt wird im nördlichen Mittelgebirge dabei immer in der Reihenfolge der Jahreszeiten. Jede Figur hat dabei ihre eigenen typischen Merkmale und Bewegungen. In Rum trägt so beispielsweise nur der Halbweiße (Frühling) eine Weidenrute. Während der Zaggeler (Herbst) einen Triaml (kurzen Holzstab) und der Zottler (Winter) eine Peitsche (oder ebenfalls einen Triaml) führt. Außerdem darf beim Rumer Mullerlauf nur der Halbweiße den Zottler besteigen: ein symbolischer Sieg von Frühling über Winter.

Dorfgeschichten

All das erklärt mir Jolanda, als sie mich in High Heels durch die Vorbereitungen führt. Jolanda heißt sonst eigentlich Ardo und trägt Vollbart. Heute sucht ihn jeder, aber niemand erkennt ihn. Durchaus praktisch, grinst Jolanda glattrasiert, denn im Organisationskomitee gibt es seit Monaten natürlich keine freie Minute mehr. Unterwegs treffen wir eine Familie Hexen, wo Papa-Hexe mit den Kids schon mal den Kessel aufsetzt. Auch ein paar zottelige Bären tanzen sich am Wegrand  mit den Affen warm. Behutsam bringt man die uralten Kostüme der Spiegeltuxer auf Hochglanz.

Überall liegt Vorfreude in der Luft, man lacht herzlich und strahlt mit dem Wetter um die Wette. Das Ganze ist übrigens ein total nachhaltiges „Green Event“, weiß Jolanda zu berichten. Ohne Plastik und Einweggeschirr, dafür mit Mülltrennung – bei 10.000 Gästen definitiv eine Erwähnung wert. Irgendwer erkennt Jolanda dann aber doch. Sie winkt noch einmal, dann begrüßt der Obmann der Rumer Muller auch schon die Festgäste.

Der Kranewitter trägt Wacholder

Grimmig treiben die mächtigen Kranewitter die Menge auseinander. Sie machen Platz für den Triumphzug des Frühlings. Ihr stacheliges, grünes Kostüm wiegt an die fünfzig Kilo und wird jedes mal eigens für den großen Mullerlauf aus frischen Wacholderästen handgefertigt. Dieses Jahr eine besondere Herausforderung, denn der Wacholder wächst hier hoch oben am Berg. Um an die frischen Zweige zu gelangen, mussten sich die Rumer Muller darum erst durch meterweise Schnee schaufeln. Ihr prächtiges Wacholderkleid trugen die Kranewitter (der Volksmund nennt den Wacholder auch Kranewittstaude) dieses Jahr darum besonders stolz zur Schau.

Von Hexen und Klötzln

Den Kranewittern folgen die Hexen. Ein wilder und lauter Haufen mit ganz besonders liebevoll entstellten Larven (so nennt der Volksmund die aufwändigen Holzmasken der traditionellen Kostüme). Die Hexen bürsten den Besuchern mit ihren Reisigbesen über die schweren Winterstiefel um sie für den Frühling herauszuputzen. Sie bilden mit den Klötzlern (mit klapperndem Schindelkleid aus heller Buche und dunklem Nussholz) die Wegbereiter der eigentlichen Muller. Und kümmern sich lautstark um alle die von den Kranewittern unbeeindruckt weiter im Weg stehen.

Der Tanz der Jahreszeiten

Dann folgen endlich die Muller der vier Jahreszeiten: Auf die Vorläufer folgen Zaggeler und Zottler als Herbst und Winter in entsprechender Farbentracht. Mit ureignen Posen und Schritten erzählen sie von der kalten Jahreszeit und zeigen ihre prächtigen Kostüme (Federn, Felle und schillernde Spiegel gegen die bösen Geister). Beim “Abmullen” der Schaulustigen bringt ein kräftiger Schulterschlag Glück für das kommende Jahr, ein Schnapserl (respektive Zuckerl) unterstützt die Lebensgeister.

Dann folgen Frühling (Halbweißer) und Sommer (Melcher und Spiegeltuxer) mit einem Schuhplattler (dem “Reith im Winkl-Plattler”) von der steirischen Ziehorgel für den Frühlingsbeginn. Und noch etwas Schnaps für die Lebensgeister. Abschließend lässt sich der Winter (Zottler) vor den Schaulustigen rücklings zu Boden fallen (diese typische Tanzfigur nennt man den “Frosch”). Der Halbweiße steigt ihm triumphierend auf den Bauch, breitet die Arme aus und signalisiert: Der Frühling hat gesiegt, der Winter ist vorbei!

Spaß und Schabernack

Der ganze Umzug wird von einer Vielzahl regionaler Kulturvereine tatkräftig unterstüzt: Darunter Schützen, Musikanten und eben Muller (in Rum mit 189 erwachsenen und 63 Nachwuchsmullern). Eine lange Traditionsgeschichte die von den Familienvätern der Dorfgemeinden seit Generationen an ihre Söhne weitergegeben wird – das Mullen ist hier traditionsgemäß noch Männersache. Historischer Vergleichswert am Rande: Die älteste Larve der Rumer Muller wurde kürzlich auf etwa 340 Jahre datiert.

Neben den urtypischen Auftritten der Muller dürfen natürlich auch die themengebundenen Festwägen bei keinem Umzug fehlen: Auch dieses Jahr ließen die Dorfältesten ihre angegrauten Ehefrauen wieder in der Altweibermühle in junge Dirndln verwandeln. Während nebenan ein reicher Bauer mit einem Händler lautstark um eine Ziege feilschte (in Schilling!). Dazwischen versuchten Hirten einen schwarzen Geisterbock zu melken (natürlich erfolglos), eine Gruppe Schmiede ein störrisches Pferd zu beschlagen (ebenfalls erfolglos) und Gendarmeriebeamte (sic!) einer Gruppe Wilderern das Handwerk zu legen (erfolgreich). Tagespolitisch zog man lokale Nahverkehrsverbindungen durch den Karnevalskakao. Und verkaufte die neue Patscherkofelbahn kurzerhand an einen dickbäuchigen Investor aus Russland.

Das Ende vom Bock

Nach unzähligen Inkarnationen von Mullern, Hexen, Bären und Wägen (jedes teilnehmende Dorf inszeniert seinen eigenen Jahreszeitenwelchsel beim Mullerlauf) findet auch dieser Mullerlauf mit dem „Absamer Bock“ seinen traditionellen Abschluss. Jolanda steht plötzlich wieder neben mir und erklärt, dass nur der wilde Bock aus Absam auch als solcher erkennbar ist. Und deutet grinsend zwischen die Hinterbeine.

Nach dreieinhalb Stunden ausgelassen buntem Faschingstreiben findet auch dieser Rumer Mullerlauf beim anschließenden Patschenball im Forum Rum seinen abendlichen Ausklang. Gelegenheit die Eindrücke noch einmal mit den Mullern revue passieren zu lassen und mit dem ein oder anderen Schnapserl auf den Frühling anzustoßen. Auf den nächsten Rumer Mullerlauf wird man nun wieder vier Jahre warten müssen – 2023 wäre dann der nächste Termin. Der Frühling kommt inzwischen wohl trotzdem, aber eben selten so eindrucksvoll.

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