Bombentreffer im Polizeipräsidium am Südtiroler Platz vom Dezember 1944

Eine junge jüdische Frau überlebt den Holocaust, dank der Zivilcourage einiger mutiger Innsbrucker. Und dank einer großen Portion Glück. Leokadia Justmans wahre Geschichte liest sich wie ein Thriller. Die atemberaubende Biografie gibt es nun im Buchform.

Vom wundersamen Überleben in Zeiten totaler Finsternis 

Ich hatte es nicht für möglich gehalten: Genau 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem schrecklichen Massenmord der Nazis an mehr als sechs Millionen jüdischen Menschen taucht die Geschichte einer polnisch-jüdischen Frau aus dem tiefsten Dunkel der Geschichte auf. Sie hatte die entsetzliche Verfolgung der Juden in Tirol überlebt. Leokadia Justman war dem sicheren Tod durch die Nazis auf wundersame Weise in zuerst in Seefeld, dann in Innsbruck und bei Kriegsende in Lofer entkommen. Immer unter tatkräftiger Mithilfe von mutigen Innsbruckerinnen und Innsbruckern, die damit auch im Geheimen ihre Gegnerschaft zum Hitler-Faschismus offenbarten.

Eine Überlebensgeschichte

Noch in Innsbruck begann die junge Frau unmittelbar nach dem Krieg ihre unfassbaren Erlebnisse in Worte zu kleiden. Nachdem sie mit ihrem Mann in den USA ausgewandert war, erschienen ihre Autobiografie als Buch, das bei uns nie bekannt wurde. Es ist der Universität Innsbruck und dem Innsbrucker Stadtarchiv zu verdanken, dass die unglaublichen Lebenserinnerungen dieser Frau soeben in der Reihe der ‚Veröffentlichungen des Stadtarchivs Innsbruck, Neue Folge 81‘ auf Deutsch im Tyrolia-Verlag erschienen sind. Gleichzeitig findet im einstigen Büro des Tiroler Nazi-Gauleiters und Massenmörders Franz Hofer bis zum 26. Oktober dieses Jahres eine Ausstellung über das schier unglaubliche Schicksal von Leokadia Justman und ihre wundersame Errettung aus den Klauen der GESTAPO statt.

„Brechen wir aus! Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol“ ist ein eindrucksvolles  Dokument des Lebenswillens einer jungen Frau, die gemeinsam mit ihrem Vater von den Nazis durch halb Europa gejagt worden war. Die Aufzeichnungen von Leokadia Justman sind genauso unglaublich wie wahr. Man muss es sich vorstellen: Sie hat das Warschauer Ghetto, die brutalen Judenverfolgungen in Polen und ihre Zeit in Tirol, vor allem aber einen Gefängnisaufenthalt in Innsbruck überlebt. Allein die Vorstellung, dass sie und ihr Vater jahrelang tagtäglich mit der Entdeckung und ihrer Ermordung durch die Nazi-Barbaren rechnen musste, ließ mich als Leser des Buches erschaudern.

Ein Zeitzeuge verhalf Leokadias Schicksal ans Tageslicht

Dass ihre Geschichte 80 Jahre später überhaupt bekannt geworden ist und nun in Buchform vorliegt, verdanken wir einem Innsbrucker Zeitzeugen, einem Historiker, einem Theologieprofessor, einigen Studenten und mehreren überaus engagierten pensionierten Polizisten. Sie haben die Autobiografie der Leokadia Justman in allen Details mittels historischer Polizeiakten aufgearbeitet und konnten auch vermeintlich unwichtige Details der Schilderungen Justmans belegen.

Als nämlich der heute mehr als 80jährige Martin Thaler 2016 die Wanderausstellung zu den ‚Gerechten unter den Völkern‘ in den Ursulinensälen besuchte erinnerte er sich an eine Schlüsselszene seiner Kindheit, obwohl er gerade einmal drei Jahre alt war. (Die ‚Gerechten unter den Völkern‘ sind jene nichtjüdischen Personen, die während des Holocausts unter Einsatz ihres Lebens Juden vor Verfolgung und Ermordung retteten. Der Ehrentitel ist eine der höchsten Auszeichnungen für Zivilcourage und Menschlichkeit.) Thaler erinnerte sich dabei an die Verhaftung eines Mannes in der Wohnung seiner Mutter im Jahre 1944, wobei einer der Männer dem Mann ins Gesicht geschlagen hatte. Das folgende Video mit Martin Thaler zeigt ihn in der Originalwohnung. Es wurde vom Büro für Öffentlichkeitsarbeit der Universität Innsbruck erstellt.

In den USA aufgespürt

Er erinnerte sich dabei an Jakob Justmann, der damals mit seiner Tochter in der Wohnung der Mutter von Martin Thaler Unterschlupf gefunden hatte. Es war aber mehr das Mädchen, das ihm über all die Jahrzehnte hinweg als ‚Lotte’ in emotionaler Erinnerung geblieben ist. Da er gerne gewusst hätte, was aus ihr geworden war, wandte er sich an seinen alten Freund Niko Hofinger, einem Mitarbeiter des Stadtarchivs Innsbruck. Dessen Recherchen waren schlussendlich von einem sensationellen Erfolg gekrönt: Hofinger ‚fand‘ den Sohn der Leokadia Justman in Florida und erfuhr, dass Leokadia unter ihrem neuen Vornamen 'Lorraine Justman-Wisnicki' ihre Lebenserinnerungen bereits in Buchform 'In Quest for Life - Ave Pax' veröffentlicht hatte. Es war also die Spur zu jener Frau, die den Nazi-Schergen in Tirol auf wundersame Weise entkommen war. Dann begann die deutschsprachige Aufarbeitung einer Lebensgeschichte, die meines Erachtens das positive Potential für einen Hollywood-Film hat.

Fünf Polizisten und drei Frauen retteten Leokadias Leben

Das schier Unglaubliche an den Lebenserinnerungen von Leokadia Justman ist die Tatsache, wie sie von mutigen  Tirolerinnen und Tirolern gerettet worden ist. Es sind insgesamt acht Menschen, die sich damals selbst in Lebensgefahr begeben hatten, um das jüdische Mädchen und ihre Freundin zu retten. Denn die Nazis bestraften die Unterstützung von Juden meist mit der Todesstrafe. Und dann die größte Überraschung: In der Liste jener, die aktiv an der Rettung des jüdischen Mädchens in Innsbruck beteiligt waren, findet man gleich fünf Polizisten.

Es sind Menschen, die es verdient haben, vor den Vorhang der Geschichte geholt zu werden dachte Leokadia Justman nach dem Krieg. Sie wurden 1980 von ihr für den Titel der “Gerechten unter den Völkern"  vorgeschlagen. In Yad Vashem, der israelischen Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust, wird im Garten der Gerechten unter den Völkern für jede geehrte Person, also auch die acht mutigen Tirolerinnen und Tiroler eine Plakette angebracht. Dass diese weltweit hoch geachtete Auszeichnung für die acht Landsleute unserer 'regionalen Presse' damals nur eine äußerst knappe Meldung wert war spricht für sich selbst. 

Zivilcourage statt Hitlertreue

Die Gemeinsamkeit der fünf Männer ist, dass sie als Angestellte der Gefängnisverwaltung und als Polizisten einen Treueeid auf Adolf Hitler geleistet hatten. Zu wissen, dass es Menschen im Dritten Reich gab, die unter Einsatz ihres Lebens jüdischen Menschen das Leben gerettet hatten ist für uns alle heute noch wohltuend. Bemerkenswert ist auch der heldenhafte Mut von Frauen, die sich gegen die Brutalität der Nazis gestellt hatten. Für mich ist die Geschichte der Leokadia Justman eine Bestätigung dafür, dass die Humanität auch in Zeiten totaler Finsternis überleben kann.

Mit intensiven Recherchen und der anschließenden Veröffentlichung der Lebenserinnerungen der Leokadia Justman haben Niko Hofinger und der Theologieprofessor Dominik Markl als Herausgeber einen immens wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Tiroler Geschichte während des 3. Reichs geleistet. Sie belegen einerseits den Kadavergehorsam nazitreuer Vasallen und den als heldenhaft zu bezeichnenden Widerstand von Menschen andererseits, die in Hitler einen Teufel sahen.

Der Horror begann, als Leokadias Mutter statt ihrer Tochter ins Gas ging

Es ist die unglaubliche Bestialität der Nationalsozialisten, die das Buch vielfach dokumentiert. Als etwa die Mutter Leokadias statt ihrer Tochter den Weg in die Vernichtungslager antrat. Sie schildert die letzten Worte ihrer Mutter bevor sie den Viehwaggon nach Auschwitz erklimmen musste auf ihrer Fahrt in den sicheren Tod. Worte, die vielen Lesern des Buches die Tränen in die Augen treibt: „Ach Liebling, du bist mein Ein und Alles, meine Zukunft. Du musst überleben. Dieser Wunsch ist größer als mein eigener Wille zu leben. Ich vertraue fest auf deinen Vater. Was keiner sonst erreicht, er wird es schaffen. Er wird dir den Weg in die Sicherheit ebnen. Ich habe dir das Leben geschenkt, meine Kleine, und ich will, dass dieses Leben weitergeht.“

Gemeinsam mit ihrem Vater Jakob Justman, der sich als ihr Bruder ausgab, gelang es der sehr gut deutsch sprechenden Leokadia tatsächlich mit gefälschten Papieren als Fremdarbeiterin aus Polen zu fliehen. Zuerst nach Seefeld, wo sie am 9. März 1943 eintrafen und später nach Innsbruck. Als ein Gestapo-Spitzel sie und andere polnische ‚Fremdarbeiter‘ einer Widerstandsgruppe verpfiff, wurde Leokadia mit ihrer Freundin Marysia am 13. März 1944 verhaftet. Den wöchentlichen Transporten in die Vernichtungslager entgingen sie lange Zeit nur deshalb, weil sie sich in der Gefängnisküche quasi unersetzlich gemacht hatten.

Ein Bombenangriff ebnete den Weg in die Freiheit

Dass Leokadia den Horror der Nazis und ihrer Schergen überlebte, ist letztendlich einem alliierten Bombenangriff auf den Innsbrucker Bahnhof im Dezember 1944 zu verdanken. Dabei wurde auch das Polizeihauptquartier samt Polizeigefängnis getroffen, in dem Leokadia mit ihrer Mitgefangenen Marysia eingesperrt war. Beide Mädchen wussten von Wolfgang Neuschmid, dem Leiter des Polizeigefängnisses, dass die GESTAPO am 19. Jänner 1945 einen ‚finalen’ Transport in das furchtbare KZ Ravensbrück plante. Er hatte beide junge Frauen immer wieder vor einem Abtransport beschützt. Jetzt konnte er den beiden nicht mehr helfen.

Worauf Leokadia beschloss, auszubrechen. Auch deshalb, weil ihr ein Mann, den sie in der Gefängnisküche getroffen hatte, versprach, einen sicheren Unterschlupf nach einer etwaigen Flucht zu besorgen. Es war Rudolf Moser, übrigens der Bruder jenes Robert Moser, den die Gestapo als Mitbeteiligten der berühmten ‚Operation Greenup‘ im April 1945 zu Tode folterte. (Ich habe diese höchst erfolgreiche Aktion des amerikanischen Armeegeheimdienstes hinter feindlichen Linien in diesem Blogbeitrag beschrieben.) Der damalige Einsatz von zwei US-amerikanischen Agenten und eines österreichischen ‚Deserteurs‘ sowie die Unterstützung durch Tiroler Widerstandskämpfer bewahrten Innsbruck übrigens vor der Zerstörung durch abziehende Nazis, die normalerweise ‚verbrannte Erde‘ hinterließen.

Brechen wir aus!

Und so brachen Leokadia und Marysia am 18. Jänner 1945, wie das Polizeiprotokoll ausdrücklich festhält, um 18:30 Uhr aus dem Gefängnis durch eine Bresche aus, die von einer Fliegerbombe in die Mauer gesprengt wurde und verließen das Gebäude durch den zerstörten Haupteingang. Mit Hilfe zweier ihnen wohlgesonnener Polizisten, es waren Rudolf Moser und Anton Dietz, wurde die Flucht zu einem vollen Erfolg. Während ihnen Moser wie versprochen einen ersten Unterschlupf vermittelte stellte Anton Dietz am 25. Jänner ein mit dem Polizeistempel versehenes Papier für zwei ‚poln. Angestellte’ aus  die ihre Ausweise bei einem Angriff verloren hätten. Leokadia hieß jetzt „Krystyna Chruscik“; Marysia wurde zu „Wanda Stolar­czyk“. Mit den Zetteln meldeten sie sich beim Arbeitsamt Zell am See, worauf sie als Haushaltshilfen nach Lofer und St. Martin vermittelt wurden.

Nach dem Krieg

In den allerletzten Kriegstagen verlor Leokadia ihren Job bei einer wohlhabenden, sie verachtenden Nazi-Fanatikerin und wurde vom Gemeindepfarrer von St. Martin, dem sie sich als Jüdin offenbarte, bis zum Kriegsende geschützt.

Nach der Befreiung Österreichs erfährt Leokadia Justman, dass ihr Vater im Lager Reichenau erschlagen worden ist. Sie veranlasst die Umbettung auf den Westfriedhof, wo das Grab heute noch im jüdischen Teil besucht werden kann. Leokadia beginnt nach dem Kriegsende beim Jüdischen Komitee in Innsbruck zu arbeiten, wo sie auch ihren künftigen Mann kennen lernt. Bis zu ihrer Emigration in die USA half sie vor allem den polnischen Nazi-Opfern. In dieser Zeit verfasste sie auch den Großteil ihrer Erinnerungen. 

Unglaublich aber wahr: Drei der ‚Gerechten unter den Völkern‘ wurden nach dem Krieg in Österreich degradiert oder entlassen

Dass nach dem Krieg drei dieser Polizisten teils degradiert oder aus dem Dienst entlassen worden sind,  ist ungeheuerlich. Leokadia Justman hat dies später so kommentiert: „Es sah zeitweise so aus, als arbeitete eine starke, aber unsichtbare Nazi-Kolonne in einem pro-alliierten Mäntelchen im Untergrund für ihre eigene Sicherheit und ihren eigenen Einfluss."

Die Autobiografie als Ausgangspunkt weiterer Forschungsarbeiten

Justmans Buch ist nicht der Abschluss, viel eher ist es ein Beginn weiterer Forschungsarbeiten. Der Jesuitenpater Dominik Markl ist Inhaber des Lehrstuhles für Alttestamentliche  Bibelwissenschaft an der Uni Innsbruck. Er erforschte noch in Rom die Rettung tausender Juden in den katholischen Klöstern und engagierte sich daher auch für die Aufarbeitung der Lebensgeschichte dieser jungen Frau. Gemeinsam mit Niko Hofinger leitet er das Uni-Forschungsprojekt „Leokadia Justmans Überlebensgeschichte: Edition - Analyse - Öffentlichkeitsarbeit.“ Zudem gestaltete er auch eine Ringvorlesung zum Thema „Widerstand und Verfolgung junger Menschen in totalitären Systemen“. So unfassbar es klingen mag: damit sind auch in unseren Tagen wieder hunderttausende Menschen konfrontiert.

Ich möchte noch eine Passage des Buches wieder geben, die Leokadia Justman am Schluss ihres Buches angebracht hatte:

„Am Ende meiner Geschichte möchte ich meine nie endende Dankbarkeit und Bewunderung für die gottgesandten Menschen ausdrücken, die entscheidend dafür waren, mein Leben zu retten und das Leben meiner Freundin Marysia. Wie in einem Gebet wiederhole ich ihre Namen: Anton Dietz, Karl Dickbauer, Erwin Lutz, Rudl Moser, Wolfgang Neuschmid, Maria Petrykiewicz und ihre Tochter Wanda Petrykiewicz-Bottesi und Marianne Stocker.“

MEINE TIPPS

Ich möchte all den klugen Leserinnen und Lesern dieses Blogs zwei Dinge empfehlen: Das Buch ‚Brechen wir aus‘ zu lesen und die Ausstellung im Landhaus 1 über die Geschichte von Leokadia Justman zu besuchen. Sie ist noch bis zum 26. Oktober 2025 geöffnet. Weitere Infos zur Ausstellung gibt es auf dieser Website. 

Die Geschichte Leokadia Justman erschien als Buch bei Tyrolia. Entweder in Buchhandlungen oder im Stadtarchiv Innsbruck erhältlich. Auch online zu bestellen. 

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