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Der junge Mann ist vom Regen in die Traufe gekommen. Vor sechs Jahren hatte er sein nacktes Leben vor den Nachstellungen der Schergen des syrischen Regimes gerettet. Kaum in der Sicherheit Tirols angekommen, begann er eine neue Existenz aufzubauen. Lernte innerhalb kürzester Zeit Deutsch, das er schon fantastisch beherrscht. Und wollte dann so rasch wie möglich seinen erlernten Beruf ausüben. Was ihm auch gelang. Seine Website belegt das eindrucksvoll. Und nun das: Die Corona-Pandemie droht das mühsam Erreichte zunichte zu machen.

Mohammad Jabr ist Brokat-Weber. Seine syrische Familie übt in Damaskus seit Generationen ein Kunsthandwerk aus, für das diese uralte Stadt einst berühmt gewesen ist. Hauchdünne Naturseidenfäden werden seit Jahrhunderten in wunderbare, bisweilen schillernde Brokatstoffe verzaubert. Bis zu dreißig Webstühle der Familie ratterten einst sogar im berühmten Bazar zu Damaskus. Die wichtigste Voraussetzung allerdings, in Tirol eine Existenz als Brokatweber aufzubauen, war ein funktionstüchtiger Webstuhl. Den hatte Mohammad bei seiner Flucht in Syrien zurücklassen müssen.

Brokat Weberei Innsbruck

Der 200 Jahre alte Jacquard-Webstuhl im Brokat-Web-Shop in der Wilhelm-Greil-Straße 5. ©Lea Hajner

Auch der Webstuhl findet den Weg nach Tirol

Dass jetzt doch einer dieser schon als historisch zu bezeichnenden Webstühle in der Wilhelm-Greil-Straße 5 steht, grenzt an ein Wunder. „Es ist uns vor drei Jahren tatsächlich gelungen, den 200 Jahre alten familieneigenen Jacquard-Webstuhl auf wahrhaft verschlungenen Wegen aus Syrien heraus zu bekommen“, lacht er bei meinem Besuch. In vier Kisten verpackt über den Libanon nach Frankreich. Und dann via Wien nach Tirol.

Mohammad ist gerade dabei, ihn zu reparieren. Das Gewinde einer uralten Schraube ist ausgeleiert und muss ersetzt werden. „Ich bin froh, schon als Kind gelernt zu haben, Webstühle auseinander zu nehmen und wieder zusammenzubauen“, sagt er. Um mir dann zu erklären, wie es möglich ist, komplizierte historische Brokat-Muster quasi in Handarbeit auf diesem ‚Holzgestell’ zu weben.

Wie die Auftragslage derzeit ausschaue, möchte ich zuerst wissen. Der ansonsten stets fröhliche, freundliche junge Mann wird ernst. „Ich habe in den letzten Wochen lediglich einige Exemplare des von mir kreierten Brokat-Mundschutzes verkauft.“ Das hört sich gar nicht gut an.

Mundschutz aus Brokat

Einige dieser exklusiven Masken aus Brokat verkaufte Mohammad in den letzten Wochen. Sonst nichts. ©Werner Kräutler

Was ist eigentlich ein Brokatstoff?

Für mich ist das Weben von Seidenbrokat ein Buch mit sieben Siegeln. Keine Ahnung. Also bitte ich Mohammad, mir die Arbeitsschritte zu erklären. Vor allem möchte ich wissen, was es mit dem Aufsatz auf dem Webstuhl auf sich hat, der offenbar mit Lochkarten betrieben wird. Auch mit dabei ist meine Kollegin Lea Hajner, Tirols Paradebloggerin. Ihre Bilder verwende ich übrigens in diesem Blogpost.

Brokat-Innsbruck

Der Aufbau des Webstuhles: im Vordergrund grünlich leuchtend die Kettfäden. Die roten Fäden im Hintergrund ziehen die in graue Ösen eingefädelten Kettfäden – von Lochkarten gesteuert – in die Höhe, damit die Schiffchen durch den entstandenen Freiraum ‚geschossen‘ werden können. ©Lea Hajner

30 Tage, um 7.600 Seidenfäden einzufädeln

Brokat, so erklärt er mir, ist ein Stoff, in den Gold- und Silberfäden eingewoben werden. Das macht ihn unvergleichlich und wertvoll. Beim Weben geht es dann darum, erklärt Mohammad, Fäden in die längs laufende Kette – sozusagen das Rohgerüst eines Gewebes –  quer hinein zu weben. Oder zu schießen, wie es im Fachjargon heißt. Brokatstoffe aus Naturseide weisen eine zusätzliche, quasi mikroskopische Dimension auf. „Auf meinem Webstuhl habe ich insgesamt 7.600 Kettfäden. Die müssen zuerst einmal alle durch eine Öse eingefädelt werden“, erklärt mir Mohammad. Wie lange er dafür gebraucht hatte? „Genau 30 Tage.“ Und dann braucht es ein Muster, sagt er. Das wird auf einem speziellen Papier gezeichnet. Wenn dann auch noch die Farben fixiert sind, wird das Muster auf Lochkarten übertragen. Dann kommen die farbige Seidenfäden in die ‚Schiffchen‘.

Brokat Innsbruck

Das Brokatmuster wird zuerst auf eine Art Millimeter-Papier gezeichnet. Das wiederum dient als Vorlage zur Anfertigung der Lochkarten. ©Lea Hajner

Ein stromloser Webstuhl

Eine nur mit Körperkraft betriebene Maschine? Ja, die gibt es noch. Sein Jacquard-Webstuhl funktioniert ohne jede externe Energiezufuhr. Dafür aber mit Lochkarten. Diese Erfindung des Seidenwebers Joseph Marie Jacquard anno 1804 revolutionierte die Weberei. Mit den von ihm erfundenen Lochkarten konnten nun komplizierte Webstrukturen relativ einfach hergestellt werden. Die Löcher in den Karten – sie müssen für jedes Muster gesondert angefertigt werden –  stehen für die Farbfäden. Die werden an den vorgesehenen Stellen in die Kettfäden eingeschossen. Mit dem Fuß betätigt Mohammad einen Balken, der die Kettfäden zuerst anhebt. Dann ‚schießt‘ er die Schiffchen mit den Schussfäden in den entstehenden Raum aus angehobenen und liegen gebliebenen Kettfäden. Das muss mit äußerster Konzentration geschehen. Schon ein kleiner Fehler ist fatal. Er würde sofort auffallen.

Brokat-Innsbruck

Klein, aber wichtig: die ‚Schiffchen‘ des Webstuhles. ©Lea Hajner

Dass die ganz oben am Webstuhl angebrachte Jacquard-Maschine mit den Lochkarten ebenfalls mit dem Balken bewegt wird, den der Weber drückt, ist klar.

120 Fäden für einen cm² Stoff

Um die Dimensionen der Seidenweberei aufzuzeigen: Ein 3-farbiger Brokatstoff hat 50 Querfäden, also ‚Schussfäden‘ pro Quadratzentimeter. Der fünffarbige weist 80, der siebenfarbige 120 Schussfäden auf. Daher sind die mehrfarbigen Brokate auch die widerstandsfähigen, die voluminösen Stoffe für Polster- und Sitzbezüge oder für Vorhänge. Ein kleiner Videofilm soll das veranschaulichen.

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Brokat Innsbruck

Details eines Brokates aus der Werkstatt von Mohammad Jabr. Die Turteltäubchen sind mit Goldfäden gewebt. ©Werner Kräutler

Ein Hauch von Bazar und Orient

Wer das ‚Brokat‘-Geschäft in der Wilhelm-Greil-Straße 5 zum ersten Mal betritt, fühlt sich wie inmitten eines Bazars, ja einem Märchen aus 1001 Nacht. Natürlich zieht der Webstuhl die erste Aufmerksamkeit auf sich. Dann aber fallen einem die glänzenden Stoffe, fein ziseliert und in allerlei Farbkombinationen auf. Die Sitzgelegenheiten sind mit festem Brokatstoff bezogen. Echte Seidenkrawatten werden ebenso wie bunte Seidenschals, auch solche aus Kaschmir- oder Wildseide präsentiert. Sogar ein Hochzeits-Brokatdirndl stellt Mohammad aus. Wie das? „Der verarbeitete Brokatstoff zeigt ein turtelndes Taubenpaar“, schmunzelt er.

 

Brokat Innsbruck

Der Blick aus dem Web-Shop in den Garten. ©Werner Kräutler

Brokat Innsbruck

Syrisches Kunsthandwerk als Ergänzung des Brokat-Angebotes. ©Werner Kräutler

Noch vor dem Corona-Ausbruch hatte Mohammad einen zusätzlichen Raum angemietet, der mich an meine Besuche in verschiedenen arabischen Bazars erinnert. Hier wird Kunsthandwerk vom Allerfeinsten ausgestellt: orientalische Holz-Einlegearbeiten auf Kästchen, Tableaus und Schachbrettern. In Holz oder Perlmutt und in den typisch orientalischen Mustern. Oder aber orientalische Ledertaschen mit den typischen Prägemustern. Ein gefundenes Fressen für jene, die ausgefallene Geschenke und großartiges Kunsthandwerk lieben.

Der Online Natur-Seiden-Shop

Wer sich einen Überblick über das Angebot von Mohammad Jabr verschaffen will, sollte sich seine Angebote im Online-Shop zu Gemüte führen. Natürlich können damit auch die exklusiven Waren des Web-Shops bestellt werden.

Kontakt:

Brokat-Shop
Mohammad Jabr
Wilhelm-Greil-Straße 5
6020 Innsbruck

Telefon: +43 688 640 824 73
Web: www.brokat-tirol.at
Email: mhd.jabr@hotmail.com

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