_DSC7895

Ab der Spielzeit 2023/24 ist Irene Girkinger Intendantin des Tiroler Landestheaters. Im Interview spricht sie über alpin-urbane Gefühle, ihre Schwerpunkte und ihren Lieblingsaperitiv.

Innsbruck trägt das Motto „alpin-urban“. Was ist für Sie alpin in der Stadt, was urban?

Irene Girkinger: „Wie wohl für alle zeigt sich das Alpine für mich in der Nähe der Berge. Ich kenne keine andere Stadt, in der sie so präsent sind und die Menschen ganz selbstverständlich in Funktionskleidung herumlaufen. Als Kind habe ich mit meinen Eltern sehr viele Bergtouren unternommen, dann kam die Pubertät, und ich fand Bergsteigen nicht mehr cool. Mittlerweile bin ich wieder sehr gerne in den Bergen unterwegs, auch mit dem Mountainbike auf die Almen in der Umgebung.“

Alpin – urban

Und was ist für Sie urban?

„In der Stadt die Markthalle, der Bereich rund um die Maria-Theresien-Straße, das Haus der Musik Innsbruck, das Tiroler Landestheater und das Tiroler Landesmuseum. Hier wird auf engem Raum sehr viel Kultur geboten. Toll wäre es, wenn der Gedanke des Kulturquartiers rund um die Hofburg, das Volkskunstmuseum/die Landesmuseen und das Landestheater wieder aufgenommen würde. Auch die Bögen-Kultur finde ich super, diese Vielfalt der Lokale unter dem Bahnviadukt, dazu die Kombination aus historischer und moderner Architektur. Etwas präsenter könnten zeitgenössische Formate wie Pop-up-Kunst oder -kultur sein.“

Hier könnte das Tiroler Landestheater anknüpfen, oder?

„Tatsächlich wollen wir mehr nach außen gehen. Das traditionelle Theaterfest im September bietet Gelegenheit dafür, aber wir wollen auch bei den Stadtteilfesten, in den Schulen, auf öffentlichen Plätzen präsent sein, also den öffentlichen Raum mit einbeziehen. Insgesamt soll sich das Landestheater unter meiner Führung mehr für neue Gruppen öffnen, durchlässiger sein.“

Was haben Sie nach Ihrem Umzug nach Innsbruck eigentlich als Erstes gemacht?

„Ich war ja bereits vor der Übersiedelung von Bozen nach Innsbruck immer wieder länger da. Ende des Sommers habe ich meine Wohnung in Innsbruck bezogen und gleich eine Almtour mit dem Rad unternommen. Besonders schätze ich die italienischen Cafés in der Innenstadt, im „La pausa“ gibt es meinen Lieblingsaperitif: Select Spritz. Außerdem gibt sehr gute Restaurants in Innsbruck – ich habe also schon einige genussvolle Momente erlebt.“

Welt – Schmerz – Mittel

Seit Anfang September hängen auf großen Bannern die Begriffe Welt, Schmerz, Mittel zwischen den Säulen des Tiroler Landestheaters. Drei Wörter, die viel Interpretationsspielraum lassen, was ja zum Theater passt. Trotzdem: Erklären Sie uns bitte diese drei Begriffe und ihre Verbindung zueinander.

„Jeder dieser Begriffe funktioniert für sich, und sie lassen sich auch miteinander kombinieren. Sie wecken unterschiedliche Assoziationen: Die eine Person nimmt mehr das Mittel wahr, die andere den Weltschmerz, wieder eine andere das Schmerzmittel. Die drei Begriffe eröffnen also Denkräume – und das ist auch ein großes Ziel des Theaters.“

Mit Ihrer Intendanz beginnen rund 100 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Tiroler Landestheater. Was bedeutet das für das Haus?

„Mit jeder neuen Intendanz ändert sich die Zusammensetzung des künstlerischen Personals. Das ist ein natürlicher Prozess, der in allen Häusern stattfindet. Eine neue Intendanz bedeutet Repertoire-Wechsel, neue Schwerpunkte – entsprechend muss das Team zusammengesetzt sein. Wir haben sehr viel Wert auf ein mehrsprachiges Ensemble gelegt und wollen die Grenzen zwischen den Sparten stärker auflösen. Nun geht es darum, zusammenzuwachsen. Das geschieht in der künstlerischen Arbeit, im gemeinsamen Erarbeiten der Stoffe und Stücke. Dass alles funktioniert, dafür sorgen die Menschen hinter der Bühne, in der Technik, in der Verwaltung, in den Werkstätten. Sie bilden das Gerüst des Hauses.“

Austausch und Diskurs

Sie haben jeweils ein zweiköpfiges Führungsteam in den vier Sparten Musiktheater, Schauspiel, Tanz und Junges Theater installiert, mit hohem Frauenanteil. Welche neuen Möglichkeiten und Perspektiven eröffnen sich dadurch?

„Wir leben in der Zeit von MeToo, in der Machtkonzentration – zu Recht – zunehmend kritisch gesehen und diskutiert wird. Das Theater ist Teil dieses gesellschaftlichen Wandels, und ich finde es wichtig, Entscheidungen nicht in die Hände einer Person zu legen. Theater ist ein kollektiver Prozess, das soll sich auch auf den Führungsebenen zeigen. Zudem wollte ich die Dramaturgie in den Sparten stärken. Dramaturginnen und Dramaturgen nehmen eine wichtige Rolle bei der künstlerischen Planung einer Saison und der konkreten konzeptuellen Erarbeitung von Stücken ein, stehen oft aber in der zweiten Reihe bei der Wahrnehmung. Und dass mehr Frauen in Führungspositionen sollten, ist keine revolutionäre Haltung, sondern sollte selbstverständlich sein. Wir agieren im Tiroler Landestheater also auf der Höhe der Zeit und sind im internationalen Vergleich nun ziemlich vorne dabei.“

Wie würden Sie Ihren Führungsstil bezeichnen?

„Ich schätze den Austausch, den Diskurs, das macht Theater lebendig. Wobei ich entscheidungsfreudig, mir meiner Rolle als Intendantin sehr bewusst bin! Gespräche auf Augenhöhe und ein kollegialer Stil sind mir sehr wichtig. Auch der Spaß kommt nicht zu kurz: Die Arbeit am Theater soll auch Freude machen.“

Minichmayr und Lenya

Zum Auftakt und an weiteren Abenden im Oktober interpretiert die Schauspielerin Birgit Minichmayr Lotte Lenya, eine der bekanntesten Sängerinnen ihrer Zeit, die Lieder von Kurt Weill und Bertolt Brecht berühmt machte. Brecht pflegte ein sehr ausbeuterisches Verhältnis zu Frauen. Es erstaunt also ein bisschen, dass die Wahl auf Lieder von Brecht fiel.

„Im Zentrum der Abende stehen nicht Weill und Brecht, sondern die Interpretin Lotte Lenya. Eine Ausnahmeerscheinung, eine sehr selbstbewusste und überaus erfolgreiche Sängerin. Sie hat den Liedern von Weill und Brecht zu hoher Bekanntheit verholfen und hatte einen starken Einfluss auf Weill, hat sich die Lieder auf ganz eigene Art angeeignet. Insgesamt steht der Auftakt dafür, dass wir uns in den kommenden Jahren stark dem Thema Exil, Exilliteratur und -musik widmen wollen. Lenya, Weill und Brecht flohen ja vor den Nazis in die USA.“

Im April 2024 kommt das Theaterstück „Café Schindler“ auf die Bühne, das mit der jüngeren Geschichte Innsbrucks zu tun hat. Es fußt auf den Erinnerungen von Meriel Schindler, deren Vorfahren das legendäre Café Schindler in der Maria-Theresien-Straße gründeten und von den Nazis vertrieben wurden. Warum dieses Stück?

„Zeitgeschichtlich heikle, verdrängte und aktuelle Themen aufzugreifen gehört zu den Säulen meiner Arbeit. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist enorm wichtig. Die jüdische Geschichte und übrigens auch die Geschichte des Tiroler Landestheaters während der NS-Zeit sind noch nicht ausreichend beleuchtet. Als ich zur Intendantin des Tiroler Landestheaters bestellt wurde, habe ich mich sofort um die Uraufführungsrechte für das Buch von Meriel Schindler bemüht. Wir wollen und müssen damit auch junge Menschen erreichen.“

Klassenzimmerstück

Mit dem neuen Klassenzimmerstück gehen Sie direkt in Schulklassen. Den Beginn macht „Die Fremde“, das der Innsbrucker Schriftsteller Christoph W. Bauer eigens dafür geschrieben hat. Worum geht es?

Christoph W. Bauer hat sich in mehreren seiner literarischen Arbeiten intensiv mit der Geschichte Innsbrucks, mit der seiner Häuser und insbesondere auch der jüdischen Geschichte befasst. Er ist ein Spezialist in der literarischen Umsetzung solcher Themen. Das Stück macht die jüdische Geschichte Innsbrucks erlebbar und richtet sich an Menschen ab 14 Jahren. In den Klassen können wir einen direkten Kontakt aufbauen, den Schülerinnen und Schülern Theater unmittelbar nahebringen und einen Dialog führen. Das Stück bildet auch eine inhaltliche Klammer zu ‚Café Schindler‘.“

Die Bilanz der Saison 2022/23 lautete: 694 Veranstaltungen, 178.878 Besucherinnen und Besucher. Welche Bilanz würden Sie am Ende Ihrer ersten Saison gerne ziehen?

Johannes Reitmeier hat seine Intendanz mit einer hervorragenden Saison beendet. Und natürlich ist es mein Ziel, daran anzuschließen. Normalerweise muss man aber mit zehn bis 15 Prozent Einbußen bei einem Intendantenwechsel rechnen. Ich bin sehr glücklich, wenn wir am Ende der Saison den Erfolg der letzten Saison beim Kartenverkauf und den Abonnements fortführen können – und in den nächsten Jahren möchte ich dann natürlich gerne die Auslastung weiter steigern und vielleicht die 200.000er-Marke erreichen!“

Tiroler Landestheater und Orchester GmbH Innsbruck
Rennweg 2
6020 Innsbruck
Tel.  +43 512 52074
tiroler@landestheater.at
www.landestheater.at

Informationen zum Programm des Tiroler Landestheaters auf der Website; Infos zu weiteren Veranstaltungen im Veranstaltungskalender von www.innsbruck.info

Ähnliche Artikel