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Als ich vor etwas mehr als fünf Jahren endlich jenen Stoff gefunden hatte, den ich zwanzig Jahre lang suchen musste, fand ich auf den Tipp eines Freundes hin auch den dazu ‚passenden‘ Schneider. Obwohl bereits in Pension, griff dieser Meister für mich nochmals zu Nadel und Faden und zauberte aus dem Wifling einen Gehrock, den ich regelrecht verehre. 

Es ist nicht nur der Gehrock, dessen perfekte Ausführung mir imponiert. Es ist die Person des Schneidermeisters, die mich seither fasziniert. Zum einen, weil er der Vertreter eines aussterbenden Berufsstandes ist. Wäre Hubert Eichler zum anderen eine Medaille, glänzte auch seine Rückseite hell und leuchtend. Was man nämlich nicht annehmen möchte, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet: Er war ein Volksschauspieler erster Güte. Aber der Reihe nach.

WIFLING – DER TWEED TIROLS

Als Regionalentwickler im Ötztal hatte ich immer wieder von einem legendären Stoff gehört, dessen Lebensdauer angeblich von der Wiege bis zur Bahre reichte. Wifling sei der Name dieses Gewebes, dessen ‚Kette‘ aus Leinen, der ‚Schuss‘ aus Schafwolle bestünde. Dann dauerte es mehr als fünfzehn Jahre, bis ich den Stoff tatsächlich auf einen Hinweis meines Stubaier Freundes Detlev Klose entdeckte. Der nahm mich mit nach Neustift zu Martin Stern, einem der letzten großen Handwebemeister des Stubai. An seinem alten Handwebstuhl hatte Michael diesen dicken, robusten, einst vornehmlich in den Tiroler Seitentälern getragenen Stoff quasi ‚wiederbelebt‘. Lagernd hatte er einen nicht alltäglichen weißen Wifling. Der war von einer Bestellung übrig geblieben. Normalerweise ist ein Wifling nämlich braun.

Jetzt musste ich nur noch einen Schneider finden, der dieses rustikale Tuch auch verarbeiten konnte. Ich hatte mir einen Gehrock eingebildet, weil man sich ja sonst nix gönnt. Auch hier kam der Tipp von einem Freund. Der verwies mich an den Schneidermeister Hubert Eichler in Sistrans. Der sei zwar schon in Pension, aber wenn ich den lange genug betteln würde wär’s möglich, dass er sich überreden ließe, hieß es.

DER SCHNEIDER MIT DEM SCHALK IN DEN AUGEN

Als ich der einstigen Schneiderwerkstatt anklopfte, öffnete mir ein eher kleiner, drahtiger Mann, dem man kaum ansah, dass er auf die 80 zuging. Schon beim ersten Treffen bemerkte ich den Schalk in seinen Augen. Er arbeitete gerade an einer alten Pfaff-Nähmaschine, das Bügeleisen war eingeschaltet. Also doch noch tätig bei der Sache? „Für meine Familie schneidere ich noch“, sagte er. Der Stoff, den ich dabei hatte, interessierte ihn indes sehr. Nicht zuletzt deshalb gelang es mir, den Meister zu überreden. Er sagte zu, mir einen Gehrock aus dem Stoff zu zaubern.

Bei der ersten Anprobe kamen wir dann ins Gespräch. Hubert erzählte mir seinen meisterlichen Werdegang. Und zu meiner größten Überraschung auch davon, dass er einst mit Leib und Seele Schauspieler gewesen sei. Die Volksbühne Blaas in der Maria-Theresien-Straße wurde zu seiner Passion. Das wiederum kannte ich noch aus meiner Studentenzeit.

„Mein Vater war Schneider“, begann er zu erzählen. „Und nach dem zweiten Weltkrieg kam ich nach der Schule sofort in eine Lehre. Nicht beim Vater sondern bei einem ‚Böhm‘, dem Schneidermeister Ondratschek in der Wilhelm Greil Straße.“ Im Schneideratelier arbeitete er gemeinsam mit 20 weiteren Gesellen und einer Schar Lehrlingen. Das muss man sich einmal vorstellen. Wie packt man so viele Schneider in einen eher kleinen Raum? Ganz einfach: Sie verrichten ihre Arbeit im Schneidersitz auf dem Tisch. Das war auch nach der Übernahme der väterlichen Schneiderwerkstatt seine bevorzugte Arbeitshaltung.

Die drei Gesellenjahre schloss er mit Auszeichnung ab, wie Ulli, Huberts Gattin, ergänzt. Sie hatte ihren Mann in der Werkstatt seines Vaters kennengelernt. Damals, man schrieb das Jahr 1957, beschäftigte sein Vater immerhin noch insgesamt 10 Leute.  Und als er vom Präsenzdienst beim Bundesheer wieder in die Schneiderstube zurückkehrte, war da in der Zwischenzeit ein weiteres Mädchen als Lehrling angestellt. „Die Ulli hat mich dann hier gekapert“, lacht Hubert in seiner sympathisch-verschmitzten Art. Ein Vorgang, den er einige Jahre später in seinem ‚zweiten Beruf‘ immer wieder auf der Bühne darzustellen hatte: die Verirrungen und Verwirrungen der Liebe.

Was bei meinem Besuch beim Ehepaar Eichler nicht mehr unzweifelhaft geklärt werden kann: Wer denn nun wen ‚gekapert‘ hatte. Denn so nannte man noch vor nicht allzu langer Zeit das, was heute unter ‚aufreißen‘ gemeint ist. Mein Verdacht:  Ulli war es, die sich gegen starke Konkurrenz ihrer weiblichen Mit-Lehrlinge durchgesetzt hatte. „Die haben ihm alle schöne Augen gemacht“, beeilt sie sich zu betonen. Und das alles, obwohl sie keinen Schneider zum Mann wollte. Schlussendlich ‚gewann‘ sie den Wettbewerb um das Herz des in der Zwischenzeit geprüften Schneidermeisters. Als Kollateralschaden kündigte sogar eine Mitarbeiterin ihre Stelle bei Huberts Vater, weil ihre Liebesmüh’ vergeblich blieb.

Gemeinsam werkten sie nun als Schneiderduo, er war für Anzüge, Mäntel, Kostüme zuständig, seine Frau für die Kleider. Zu den Kunden zählten honorige Persönlichkeiten vor allem aus Innsbruck. Auch für Wirtsleute hatten sie gearbeitet, bemerken beide mit hörbarem Seufzen. War da etwas vielleicht nicht in Ordnung? „Das waren früher die schlechtesten Zahler“, erinnert sich Ulli Eichler. „Bis zu dreimal musste man persönlich in einigen Wirtshäusern antanzen, um zum Geld zu kommen. Das war schon nervig.“ 

In den frühen 80er Jahren begann für Hubert Eichler in zweifacher Hinsicht ein neuer Lebensabschnitt. Die Maßschneiderei wurde von der Konfektion nahezu verdrängt. Er arbeitete mit seiner Frau immer mehr für qualitätsbewusste Stammkundschaften. Und so hatte er eines Tages auch die Zeit, sich ins Sistranser Fasnachtstreiben zu stürzen. Ulli schneiderte ihm ein Frauengewand, in dem er einen Auftritt hinlegte, bei dem sich die Zuschauer vor Lachen gebogen hatten.

„Wir alle haben nicht gewusst, dass er so lustig sein kann“, sagt Ulli heute. Ein ‚Talente-Scout‘ der Theatergruppe Sistrans war derselben Ansicht und ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, den Schneidermeister kurzerhand für zwei Aufführungen zu engagieren: ‚Geierwally‘ und ‚Der verkaufte Großvater‘. Das war das  Sprungbrett für höhere Weihen: Er wurde Ensemblemitglied der Volksbühne Blaas in der Innsbrucker Maria-Theresien-Straße und blieb das bis ins Jahr 2005.

„Die Texte für meine Rollen lernte ich vor allem beim Spazierengehen, teils auch bei der Arbeit.“ Er habe sich immer leicht dabei getan. Im Durchschnitt waren es sechs Aufführungen in der Volksbühne im Breinössl pro Jahr, deren Text er lernen musste. Und dann die tägliche Probenarbeit. „Der war immer unterwegs“, klagt Ulli, die sich auch um die drei Kinder Hubert, Claudia und Sonja kümmern musste. Lediglich Montag war theaterfrei.

Er stellte mit Vorliebe Knechte, Kleinhäusler, Bauern, Wirte und einmal sogar einen Italiener dar. An einige Titel von Bauernschwänken erinnert er sich noch gerne. ‚Kein Auskommen mit dem Einkommen‘, ‚Die Sache mit dem Feigenblatt‘ oder ‚Die Lügenglocke‘. Sein Repertoire umfasste aber auch zeitgenössische, ‚ernste‘ Stücke wie etwa ‚Sibirien‘ von Felix Mitterer oder ‚Maria und Josef‘ von Peter Turrini.

DER ECHTE UND DER FALSCHE BARON

Hubert erinnert sich noch gerne an einen echten Baron, der einst eine seiner Aufführungen besucht hatte. Hubert spielte einen Flickschuster, der sich als Baron verkleidet. „Am nächsten Tag suchte mich dieser echte Baron, erhielt die Adresse und besuchte mich in der Werkstatt auf. Er gratulierte mir für die exzellente Darstellung eines Barons“, lacht der ‚falsche Baron’ heute noch. Und weil er die Rolle so exzellent gegeben hatte, wurde der echte Baron auch gleich zum Kunden der Werkstatt. 

Hubert Eichler ist so geblieben, auch heute noch mit dreiundachtzig Jahren: freundlich, respektvoll  und vor allem nobel. Ein Schneider als Baron.

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