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Paul Mair ist Bergführer(-Ausbildner), Sachverständiger für Alpinistik, Lebens- und Sozialberater, Geograf, Vater. Das ist mitunter ein Grund, warum seine Sicht auf die Dinge immer aus verschiedensten Blickwinkeln geschieht. Im Interview erklärt er die Basics der Tourenplanung – früher und heute – und welchen essentiellen Filter wir in Sachen Sicherheit am Berg gut und gerne mal vergessen.

Sicherheitsrelevante Filter vor der Tour

Was sind die wichtigsten Faktoren in der Tourenplanung? 
Paul Mair: „Vorab überlege ich immer, mit wem bin ich unterwegs? Was wollen wir, was können wir, welche Kompetenzen bringen wir mit? Die Antworten auf diese Gedanken fungieren als Eingangsfilter. Dann steht die Tourenplanung für mich immer unter dem großen Aspekt von Information ist gleich Sicherheitsvorsprung. Das gilt für alle Bereiche des Alpinismus, Sommer wie Winter, egal ob Klettern, Skitour, Variantenfahren. Wenn ich mir ein Bild davon zeichnen kann, wie das Gelände aussieht, dann werde ich zwar draußen trotzdem immer wieder Überraschungen erleben – wenn ich beispielsweise etwas aus der Karte nicht richtig interpretiert habe oder die lokalen Verhältnisse nicht hundertprozentig mit dem Lawinenlagebericht übereinstimmen –, aber mein Hirn ist schon mal auf anstehende Entscheidungen vorbereitet.“

Was sind deine präferierten Hilfsmittel dazu?
„Meine wichtigsten Hilfsmittel, um die im Gelände lauernden Fragezeichen möglichst gut aufzulösen, sind im Winter auf jeden Fall der Lawinenlagebericht, der Wetterbericht und/oder aktuelle Wetterstationsdaten. Wie ist die zu erwartende Sicht, was macht die Temperatur, wie viel Wind oder Niederschlag gibt es? Das sind wichtige Filter, um dann eine angemessene Tour auszuwählen. Weiters natürlich dann Karten- und Führerliteratur, wobei sich das mittlerweile stark auf Internetquellen reduziert. Hier gibt es geniale Planungstools, mit denen ich den zeitlichen und physischen Anspruch sowie Schlüsselstellen meiner Tour erheben kann.“ 

Wie würdest du aus deiner Sicht die Evolution der Tourenplanung beschreiben: Was hat sich verändert, seitdem du in den Bergen unterwegs bist? 
„Früher – sagen wir mal vor 20, 25 Jahren – haben wir uns auf Hütten noch um das Fax- oder Radiogerät geschart, um Informationen zu Wetter- oder Lawinenlagebericht zu bekommen, welche natürlich niemals mit der heutigen Prognosequalität mithalten konnten. Manchmal gab’s sogar einen Mini-Fernseher, wo wir uns Infos aus dem Teletext holen konnten, kennt das noch jemand? Jedenfalls haben wir uns weniger auf genaueste Stundenprognosen verlassen und Dinge auch einfach mal probiert. 

Gravierendster Punkt aus meiner Sicht war aber auch eine größere Bereitschaft zum Verzicht. Ich sehe es sehr kritisch, dass heute immer zu jeder Zeit irgendetwas möglich und machbar sein muss. Besonders bei Skitouren fällt es mir stark auf. Es hat früher Touren gegeben, die im Hochwinter grundsätzlich nicht gemacht wurden. Heute werden genau diese Touren ab dem ersten Schneefall gestürmt.

Aber es gibt natürlich nach wie vor Dinge, die uns die Technologie nicht abnimmt in der Tourenplanung. Wer denkt, einfach nur den blauen Punkt auf der digitalen Karte zwischen farbigen Flächen durchschieben zu müssen, keine Sicht zu brauchen, liegt einfach falsch. Wer nichts sieht, der sieht nichts. Insbesondere Gefährdungsbereiche nicht. Und die letztendliche Verantwortung liegt auch trotz der Vielfalt an genialen digitalen Hilfsmitteln immer noch beim Menschen, von dem her sehe ich die Technologien als Fluch und Segen zugleich.“

Bemerkst du auch eine Veränderung in der praktischen Tourenplanung, die man auf den Klimawandel rückschließen könnte? 
„Mir fällt das in zwei Bereichen auf: ganz offensichtlich einen massiven Rückgang der Gletscher und damit einhergehend das Freiwerden von Moränenflächen mit steilen Einzugsbereichen, in Kombination mit geringmächtigeren Schneedecken im Winter. Im Sommer sind wir auf jeden Fall mit erhöhter Steinschlagthematik konfrontiert. Wir müssen mit intensiveren Niederschlägen rechnen und mit einem Anstieg an objektiven Gefahrenmomenten. Diese ganzen Überlegungen mussten wir schon immer anstellen bei der Tourenplanung, jedoch werden sie auf jeden Fall immer brisanter. 

Generell würde ich mir wünschen, dass es mehr Möglichkeiten gäbe, mit Öffis unkompliziert zu Tourengebieten zu kommen. In der Schweiz funktioniert das besser. Ein bedarfsorientiertes Nahverkehrskonzept in den klassischen Tourengebieten wäre da wünschenswert.“

Sicherheitsfaktoren während der Tour 

Was sind für dich sicherheitsrelevante Aspekte auf Tour, denen deiner Meinung nach oftmals zu wenig Beachtung geschenkt werden?
„Das ist für mich ganz klar der Faktor Mensch. Ich würde provokanterweise sagen, wir Menschen haben schon eine Tendenz zur Selbstüberschätzung. Mangelhafte Planung, Ignoranz über lauernde Gefahren und einfach zu wenig vorhandene Kompetenzen im alpinen Gelände. Wem nicht bewusst ist, was alles passieren kann, der startet natürlich befreiter in die Berge. Wie lange das Glück und die Gutmütigkeit von Mutter Natur aber anhält, ist die andere Frage. Der Faktor Mensch sollte meiner Meinung nach immer der erste Filter sein, wenn es um die Tourenwahl geht, und da ist viel Reflexion gefragt.“ 

Was hast du in deiner Arbeit als Bergführer zum Faktor Mensch gelernt? 
„Zum einen hat sich meine Anschauung zum Beruf verändert. Anfangs hab ich gedacht, man bringt jemanden einfach irgendwohin, wo er oder sie allein nicht hinkommen würde. Diese Idee ist natürlich immer noch da, aber mittlerweile denke ich viel mehr darüber nach, was macht das mit diesem Menschen, der da in einem Abhängigkeitsverhältnis zu mir steht? Es macht natürlich auch mit uns Bergführern etwas, es passiert ganz leicht, dass wir uns da selber auf ein Podest begeben, und das kann Auswirkungen auf unser Führungsverhalten haben.

Gelernt hab ich aber auch, dass es ein unglaublich schönes Gefühl ist, mit Menschen gemeinsam etwas zu erreichen und Hilfeleister für ein tolles Erlebnis zu sein.“

Nach der Tour: Reflexion

Wiegen wir uns am Berg oft zu sehr in Sicherheit, weil meistens alles gut ausgeht und wir einfach gar nicht wissen, wie knapp es wirklich war? Und wie kann man auch dann dazulernen, wenn alles gut ausgegangen ist?
„Die große Gefahr ist dabei die Risikospirale. Nehmen wir an, die erste Tour ist super gelaufen, es wurde vielleicht mit einem Sicherheitspolster agiert. Auf Tour zwei fordern wir das Glück schon etwas mehr heraus, auch alles top verlaufen. Und bei der dritten Tour gehen wir noch einen Schritt weiter, und alles funktioniert schon wieder unglaublich gut. Es liegt in der Natur des Menschen, immer mehr zu wollen, nie zufrieden zu sein, immer das Maximum herauszuholen. Wenn immer noch ein Quäntchen Risiko dazukommt, ist es nicht mehr weit zum Unfall. Um etwas dazuzulernen, braucht es nach der Tour eine große Portion Selbstreflexion über die getroffenen Entscheidungen, auch dann, wenn bis dahin alles gutgegangen ist. Und auch mal zufrieden zu sein, wenn man das eigene Limit nicht schon wieder gepusht hat, sondern einfach eine gute Zeit in der Natur hatte.

Vielen Dank für das Gespräch!

Paul Mair ist als Bergführer und Lebens- und Sozialberater in und rund um Innsbruck tätig und Mitgründer des Vereins für Erlebnis und Sicherheit mc2alpin in Oberhofen.

Alle Bilder: © Paul Mair bzw. Lena Koller

Header-Bild: © Lena Koller

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