
Eines muss man der Tiroler Bevölkerung schon lassen: Sie nimmt ihre "fünfte Jahreszeit" sehr ernst. Wenn in Telfs die Fasnacht ansteht, hat alles andere Sendepause. Von 6. Jänner, wenn der Naz ausgegraben wird, bis zum 4. März (2025), wenn die Holzpuppe mit dem hedonistischen Lebenswandel wieder im Boden versenkt wird, hat sie das Sagen im Ort. Oder eher der Geist, den sie verkörpert. Unangepasst, unterhaltsam und trotz über 100 Jahren auf dem Buckel frei vom Staub des Brauchtums. Schon seit den ersten schriftlichen Erwähnungen rund um 1600 ließ es sich die Bevölkerung weder von Pest, Kirchenzorn noch Behördenschelte nehmen, ihrer Tradition zu folgen und das Schleicherlaufen zu begehen.
Dementsprechend viel passiert abseits des bunten Treibens am eigentlichen Aufführungstag, dem 2. Febers. Stefan Dietrich, der Chronist des Telfer Fasnachtskomitees, gibt einen kleinen Einblick darin, wie einige der Eigenheiten zustande kommen.
Mensch und Tier putzen sich, wie hier als Teil der Vier Jahreszeiten, prächtig heraus. Bild: Gerhard Füreder
Ausnahmezustand im Fünfjahrestakt
In dem Dorf nahe Innsbruck, in dem ich aufgewachsen bin, waren die Huttler und der Fasching fester Bestandteil des Jahreszyklus. In Telfs ticken die Uhren etwas anders. Die Telfer Fasnacht findet nur alle fünf Jahre statt. Historisch gab es zahlreiche Versuche, den Brauch zu verbieten oder zu beschneiden, tatsächlich pausiert hat das Schleicherlaufen aber nur zu Kriegszeiten. Warum aber die fünf Jahre, die seit 1890 gelten? „Der Hauptgrund dafür ist wohl, dass man es im Ort nicht schaffen würde, ein so großes und aufwändiges Event in dieser Form jährlich oder zweijährlich abzuhalten“, erklärt Dietrich.
Wenn man sich ansieht, wie viel Ressourcen im Dorf von der Fasnacht gebunden werden, wird der Aufwand klar. Es gibt 14 Gruppen, manche ernst und manche karnevalistisch. Sie allein stellen ungefähr 500 aktive Teilnehmer. Hinter jedem Teilnehmer steht oft die ganze Familie, die mit anpackt, um das Spektakel möglich zu machen. Am Aufführungstag kommen dann noch Hunderte hinzu, die mit Organisation und Ordnung betraut sind.
Streng geheim
Bei den althergebrachten Gruppen wie den Schleichern, Wilden oder Bären weiß man im Publikum einigermaßen, was einen erwartet. Kostüme, Bewegungen und Abläufe sind über weite Strecken kontinuierlich. Deswegen gibt es aber noch lange keine Starre: Mal ist es nur ein verändertes Detail, mal sogar eine zusätzliche Figur und gelegentlich bilden sich sogar neue Gruppen. „Es ist enorm, wie viel Kreativität hier zu beobachten ist. Volkskundler sehen solche Veränderungen als untrügliches Zeichen, dass eine Fasnacht lebt und gelebt wird und nicht schon erstarrt und ritualisiert ist“, erklärt Dietrich die Faszination am Schleicherlaufen. Während sich einige Elemente erklären ließen, seien andere – wie der Naz, der Panznaff oder der Laterntrager - einzigartig und nicht zurückverfolgbar, so der Experte.
Immer für eine Überraschung gut sind die Festwagen der karnevalistischen Gruppen. Hier lässt man sich nicht in die Karten blicken und enthüllt erst am Festtag, welches Thema man dieses Jahr aufs Korn nimmt. Auch die imposanten Kopfbedeckungen der Schleicher werden immer wieder neu gestaltet und erst auf den letzten Drücker präsentiert. Daneben gibt es aber auch Traditionshüte, die seit über hundert Jahren nachweisbar sind.
Grüppchenbildung
Wie sich die Fasnacht immer wieder neu sortiert, zeigt sich an der Zahl und Ausstattung der Gruppen und ihrem Verhältnis zueinander. Jede hat eigene Rituale und Spezialitäten, hier nur ein kleiner Überblick:
Die Schleicher sind die namensgebende Kerngruppe und durch ihre individuellen Hüte und die großen Schellen besonders markant. Ihr fast schon hypnotisierender Tanz im Kreis, dem „Kroas“, gehört zu den Höhepunkten der Fasnacht. Ihnen voran geht der Laterntrager, der auch bei ernsten Teilen wie dem späteren Totengedenken eine zentrale Rolle spielt. Im Kreis der Schleicher gibt sich eine ganze Reihe von Figuren die Ehre, mit eigenen Bewegungsabfolgen und Funktionen.
Der Laterntrager macht den Weg für die Schleicher frei, damit diese sich zum "Kroas" formieren können. Bild: Stefan Dietrich
Die Wilden sind zottige Gestalten in einem Gewand aus Baumflechten, die lange die Funktion von Ordnungshütern hatten. Mit sich bringen sie den Panznaff, der aus einem leeren Fass heraus seine Tschinellen schlägt und die Zunge streckt. An seinem Beispiel zeigt sich, wie viel Herzblut manch ein Telfer in die Fasnacht steckt. Um die Zunge weiter herausstrecken zu können, lässt sich der Darsteller des Panznaff einen Teil der vorderen Schneidezähne ziehen. Zwar sagen die einen, das sei nur ein Mythos. Andere sind jedoch überzeugt, es sei immer noch gelebte Tradition. Zum Umzug zumindest heißt es, einer der Wilden trägt eine Kette mit den gesammelten gezogenen Vorderzähnen der vorangegangenen Panznaffen.
Zu Pferd, zu Fuß und mit Musik
Zu Pferde rücken die Herolde und die Vier Jahreszeiten an. Während die Herolde den Beginn des Zuges mit einem bittersüßen Prolog von 1925 verkünden, sind die Vier Jahreszeiten und ihre Quadrille aus ernster Historie heraus entstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg symbolisierten die Reiter erst die neun Bundesländer, ab 1960 behielt man sich ihre eindrucksvolle Darbietung als Ode an den Jahreszyklus.
Herolde und Vier Jahreszeiten bleiben hoch zu Ross besonders in Erinnerung. Bilder: Markus Maass und Hansjörg Pichler
Für musikalische Einlagen sorgt die Musibanda, die Vogler kombinieren Gesang und Spott. Um gutes Wetter fleht man schon in aller Frühe mit der Sonne – ein Witz, der sich schon seit 1890 hält. Lustig geht es auch bei einer ganzen Reihe anderer Gruppen zu, die sich nach und nach gebildet haben. Die Soafnsiader etwa, die besonders provokanten Beasn Buam sowie s’Galtmahd. Sie werden ergänzt von den Kurpfuschern, dem Bachoufn und natürlich den legendären Laningern mit ihrem Naz. Die Laninger sind Figuren in Anlehnung an das Fahrende Volk Tirols, das bis ins 20. Jahrhundert auf den Straßen anzutreffen war. Der eingangs erwähnte Naz ist ihr „liabstes Kind“, eine Holzpuppe, die zur Begeisterung des Publikums rauchen, saufen und postwendend im weiten Bogen speiben kann. Last but not least, die Bären und Exoten. Sie liefern mit lebensgroßen Tierfiguren und farbenfrohem Treiben ein besonderes Spektakel ab.
Fad wird es bei der Fasnacht nie. Ob mit der Musibanda (Bild: Markus Maass), den Beasn Buam (Bild: Renate Auckenthaler), den Voglern (Bild: Renate Auckenthaler), den Laningner mit ihrem Natz (Bild: Markus Kuntner) oder den Bären und Exoten (Bilder: Hansjörg Pichler; Markus Kuntner)
Ständiger Wandel
Auch die Dynamik zwischen den Gruppen kann sich rituell verändern. Laut Dietrich haben etwa die Bären und die Beasn Buam ein Hühnchen miteinander zu rupfen: „Das nicht ganz ernsthafte Hickhack zwischen diesen beiden begann 2010, als die Bären den Beasn Buam in einem unbeobachteten Moment die Fahne entwendeten. Seither gibt es diverse, nicht ganz ernst gemeinte Retourkutschen und Retour-Retourkutschen zwischen den Gruppen.“
Auch der Stellenwert der Telfer Fasnacht hat sich massiv verändert. Einst von der Obrigkeit nur geduldet, ist sie seit 2010 Teil des immateriellen nationalen UNESCO Kulturerbes. Zuständig für die Organisation ist das Fasnachtskomitee, das am 19. März des Vorjahres bei der Josefi-Hauptversammlung gewählt wird. Chef ist traditionell der amtierende Telfer Bürgermeister. Wagenbau und Sprücheschmiederei gehen im Spätsommer und Herbst los, soweit zumindest die Theorie. Doch Dietrich weiß, wie das Telfer Herz tickt: „Im Grunde fangen die Gruppen schon gleich nach der Fasnacht wieder damit an, Stoff und Themen für ihre Aufführungen zu sammeln - nach der Fasnacht ist vor der Fasnacht!“
Alle Infos rund um Programmpunkte und Ablauf der Veranstaltung gibt es hier.
Headerbild: Hansjörg Pichler
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Begeisterungsfähige Tirolerin mit einem Hang zum Absurden. Springt gern über Mauern und nutzt die resultierenden blauen Flecken dann als Rorschachtest.
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