Der ‚Weg der Sinne‘ von Rietz über Stams nach Mötz-Locherboden ist eine Erkundung im Herzen Tirols – ganz besonders zu empfehlen im späten Frühjahr oder frühen Sommer. Dann also, wenn die Natur im Mittleren Oberinntal alle Register ihrer Schönheit zieht. Allein die Vielzahl von Kirchen, darunter sogar bekannte Wallfahrtskirchen, Kapellen und Marterln, deutet darauf hin, dass Menschen diesen Teil Tirols schon von alters her als mystische Region betrachtet haben. Ein Umstand, der von jüngst gemachten archäologischen Funden untermauert wird.
Man muss nicht strenggläubig sein, um den Wallfahrtskirchen und Kapellen am Weg ob ihrer Schönheit einen Besuch abzustatten. Und man muss auch kein Weitwanderer sein, um die knapp zwölf Kilometer locker an einem Tag zurückzulegen. Da ich maßgeblich an der Entwicklung des Projektes ‚Weg der Sinne‘ vor rund 20 Jahren beteiligt war, darf ich meinen geneigten Lesern an dieser Stelle Vorschläge zur Gestaltung einer außergewöhnlichen Wanderung machen, die am besten in Rietz begonnen wird. (Hier der Link zum Kartenmaterial.)
Mein erster Tipp: Reisen Sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln an. Weshalb? Wer auf Öffis setzt, muss nicht zwanghaft wieder an den Ausgangspunkt der Wanderung, also zum Auto, zurückkehren. Der in diesem Fall ‚ideale‘ Start erfolgt in Rietz und endet in Stams, ganz in der Nähe des Bahnhofs.
Rietz, der Ort der drei Kirchen
Die Rietzer Pfarrkirche ist so ein Fall, den man von Zug und Autobahn her zwar kennt, aber nie besucht hat. Hier startet die Rundwanderung. Die Kirche ist wahrlich alt: Ihre Gründung reicht ins 5. Jahrhundert zurück. Ich bin sicher, dass sie an einem einstigen Römerweg gelegen ist, der hier – von Stams kommend – in Richtung Pfaffenhofen verlaufen ist. Pfaffenhofen wiederum war im wahrsten Sinn des Wortes ein römischer Brückenkopf: Hier überquerte man, von Wilten – oder eben aus dem Oberland – kommend, zur Römerzeit den Inn in Richtung Via Claudia Augusta, die über den Fernpass führte.
Von der Rietzer Pfarrkirche führt dann ein Weg zur weithin bekannten Wallfahrtskirche zu Ehren des Hl. Antonius, die wie eine Burg oberhalb von Rietz thront. Die Aussicht auf das Inntal ist wunderschön. Hier, am einstigen ‚Scheibenbühel‘, erhielt sie 1757 ihre barocke Ausgestaltung, ein großer Kalvarienberg lädt religiöse Menschen zur Besinnung ein. Die dritte Rietzer Kirche ist die Heiligkreuz-Kirche im Unterdorf. Beachtenswert ist in Rietz das Kluibenschedl-Haus in der Nähe des Gemeindeamtes. Es ist das Wohn- und Geburtshaus des berühmtesten Nazarener-Maler Tirols, Heinrich Kluibenschedl.
Der anschließende Weg nach Stams kann auf zwei Arten zurückgelegt werden: entweder auf dem geteerten Verbindungsweg, auf dem der gut beschilderte Jakobsweg verläuft, oder auf dem ‚originalen‘ Weg, der in Haslach bergwärts abbiegt und auf einem schönen, vermutlich uralten Weg nach Stams führt.
Weshalb ich annehme, dass dieser Weg uralt ist? Weil er an einem mystischen und einem historischen Platz vorbeiführt. Das ‚Hexenbödele‘ strahlt heute noch eine Art Zauber aus, der in der Vorgeschichte wurzelt. Denn kaum einen Kilometer weiter am Weg begann Prof. Tomedi von der Uni Innsbruck auf meine Initiative hin 2004 mit Ausgrabungen am sogenannten ‚Glasbergl‘. Hier fand man die Reste einer rätischen Siedlung samt Opferplatz, die von den Römern bei ihrem Einmarsch im Jahre 15 n. Chr. zerstört wurde. Die Gründung der Siedlung dürfte um 600 v. Chr. erfolgt sein. Das ‚Hexenbödele‘ dürfte also ein Platz der ‚alten Religion‘ gewesen sein, den das Christentum dann als ‚verhext‘ darzustellen versucht hatte.
Dass das Stift Stams zu den Perlen am ‚Weg der Sinne‘ gehört, muss ich nicht betonen. Da es die Grablege der Tiroler Herrscher war, ist diese Tiroler Institution dementsprechend kunstvoll errichtet und ausgestattet worden. Die Website des Stifts hält viele Informationen bereit. Dass Stams der Standort des berühmten Skigymnasiums ist, muss nicht weiter verwundern: Bildungsvermittlung war und ist für den Zisterzienserorden eine wichtige Aufgabe.
Ich möchte jedoch an dieser Stelle auch weniger Bekanntes zu Stams präsentieren. Nämlich die Pfarrkirche Johannes des Täufers. Sie war jahrhundertelang das Ziel tausender, wenn nicht gar hunderttausender Pilger. Der Grund: Hier wurde eine Reliquie präsentiert, die angeblich von Johannes dem Täufer stammt, nämlich ein Finger. Es ist aber nicht irgendein Finger: Die Legende weiß zu berichten, dass es jener Finger ist, mit dem Johannes zu Lebzeiten auf Jesus deutete. Mehr dazu habe ich in meinem Blog zum Tiroler Jakobsweg festgehalten.
Von Stams aus führt der Weg zum Stamser Eichenwald, dem ältesten Tiroler Naturdenkmal. Hier erahnen kundige Wandersleute, wie die Wälder in Tirol einst ausgeschaut hatten. Eine Vielzahl von Baum- und Pflanzenarten wird hier im Rahmen eines Naturlehrpfades vorgestellt. Und vom Eichenwald geht es dann in Richtung Mötzer Innbrücke.
Einst zogen Kaiser und Könige durch Mötz
Mötz ist einer jener heute unscheinbaren Orte, die vor einigen Jahrhunderten verkehrstechnisch noch von großer Bedeutung waren. Von hier aus wurde noch im 18. Jahrhundert Lärchenholz innabwärts geflösst. Die Mötzer ‚Flössergasse‘ weist noch auf die alten Zeiten hin. Hier führte auch eine Brücke über den Inn, die einst von Kaisern und Königen benützt wurde, wenn sie von oder nach Italien ziehen wollten. Denn die Burg Klamm oberhalb von Mötz war einst der Rastplatz hoher Herren. Auch hier ist es der Namen einer Gasse, der die ‚alten Zeiten‘ unspektakulär wiedergibt: Durch die heutige ‚Königsgasse‘, die bei der Mötzer Kirche in die Landstraße einbiegt, zog man einst von der Burg Klamm zur Brücke und weiter nach Stams oder in Richtung Italien.
Von der Mötzer Pfarrkirche aus führt der ‚Weg der Sinne‘ dann zu jenem Hügel, auf dem sich weithin sichtbar die Wallfahrtskirche Maria Locherboden erhebt. Auf halber Höhe der Kirche passieren die Wandersleute eine Steinspirale, die dazu einlädt, sie von außen nach innen zu durchschreiten. Solche Spiralen sind uralte Symbole für jene verschlungenen Wege, die wir Menschen zeitlebens zurückzulegen haben.
Dass Locherboden zu einem Wallfahrtsort geworden ist, geht auf eine ‚Wunderheilung‘ zurück. Am 11. September 1871 reiste die todkranke Maria Kalb mit Verwandten nach Mötz. Am darauffolgenden Tag trug man die Frau – sie gab kaum noch Lebenszeichen von sich – zur Grotte unterhalb der Kirche und bettete sie auf zwei Kissen. Nach dem Beten eines Rosenkranzes erzählte sie von einer Marienerscheinung, erhob sich und betete mit ihren Verwandten. Anschließend konnte sie selbst nach Mötz absteigen. Heute noch ist jener Platz sichtbar, auf dem der kranken Frau nach deren Angaben die Gottesmutter erschienen sei.
Die Kirche selbst ist auf einem uralten Kultplatz errichtet. Der Fund eines bronzezeitlichen Prunkmessers deutet ebenso darauf hin wie die prähistorischen Siedlungsreste, die hier gefunden worden sind. Wer besonders gute Augen hat, findet auf dem Platz unterhalb der Wallfahrtskirche bisweilen prähistorische Keramikreste, die von Maulwürfen im Winter an die Oberfläche gestoßen werden. Ich habe jedenfalls schon eine ganze Sammlung davon.
Für Wissbegierige: am Weg nach Stams werden Tiere und Pflanzen vorgestellt
Der Abstieg vom Locherboden nach Stams führt entlang eines bisweilen schmalen Wanderweges, auf dem gutes Schuhwerk empfehlenswert ist. Zahlreiche Informationstafeln stellen dieses südwärts ausgerichtete, nusstrockene Gebiet vor, präsentieren die hier lebenden Tiere und geben einen Überblick über die Pflanzenwelt. An Ende dieses Weges wartet dann ein letztes kleines Abenteuer auf die Sinneswanderer: die Stamser Hängebrücke. Sie ist 107 Meter lang und wurde 1933 erbaut.
Von der Hängebrücke in Stams aus bis zum Bahnhof sind es dann noch rund 400 Meter.
DATEN ZUR WANDERUNG:
Länge: ca. 12 km; Zeitbedarf: rund 6 Stunden. Wanderschuhe mit gutem Profil sind höchst empfehlenswert.
Mein Vorschlag zur ANREISE: entweder mit der Bahn oder mit dem Bus (Haltestelle Rietz-Kapelle). ABREISE ab Stams entweder mit der Bahn oder mit dem Bus (Haltestelle Stams-Abzweigung Bahnhof).
Weitere Infos:
Mein Kollege Danijel Jovanovic hat einen wunderbaren Fotoblog über Maria Locherboden gestaltet.
Meine Kollegin Susanne Gurschler hat in ihrem Blogpost viel Wissenswertes über das Stift Stams zusammengetragen.
Bilder, sofern nicht anders angegeben: © Werner Kräutler
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